Symbolbild Alzheimer

Auf der 9. Jahrestagung der European Academy of Neurology (EAN) trafen sich fast 6.000 Neurologen in Budapest oder nahmen online an dem Kongress teil. EAN-Präsident Prof. Paul Boon, Ghent, konnte auch dieses Jahr wieder auf ein breites Themenfeld verweisen. Eine kleine Auswahl

Neue Biomarker zeigen schleichende Progression bei Multipler Sklerose

Neue Erkenntnisse zu Neuroimmunologie der Inflammation im ZNS, die Konsequenzen für die MS-Therapieforschung und neue Behandlungsansätze werden in den kommenden Jahren die Behandlungslandschaft der multiplen Sklerose (MS) verändern, stellte Prof. Ludwig Kappos, ­Basel, fest4. Bei der EAN-Jahrestagung beschäf­tigte sich ein Symposium mit dem aktuellen Stand und neuen Perspektiven. Ein neues therapeutisches Target ist die schleichende MS-Progression unabhängig von klinischen Schüben (PIRA; Progression Independent of Relapse Activity). Charakteristisch für die PIRA sind langsam kontinuierlich wachsende Läsionen, sog. „slowly expanding lesions“ im ZNS (SEL).
PIRA bzw. SEL sind früh nachweisbar, finden sich aber insbesondere im fortgeschrittenen Stadium, wenn die Inflammation zunehmend kompartimentalisiert abläuft. Sie sind mit klassischen Instrumenten wie dem EDSS vor allem zu Krankheitsbeginn nicht messbar, auch im weiteren Verlauf benötigt man differenziertere Untersuchungsinstrumente wie der Neurostatus-eEDSS sowie der SDMT (Symbol Digit Modalities Test) zur Messung der kognitiven Funktion, so Kappos. Digital erfassbare Biomarker, etwa mittels der Smartphones der Patient*innen, sollen auch subjektive Endpunkte zugänglich machen.

Eisenhaltige Läsionen als diagnostische Targets
Chronisch aktive SEL sind durch eine eisenhaltige Ringbildung (Paramagnetic Rim Lesions; PRL) charakterisiert. Diese SEL wachsen über einige Jahre langsam, aber kontinuierlich; PRL sind mit einem schwereren Krankheitsverlauf assoziiert. Mit der konventionellen MRT-Bildgebung können derzeit nur fokale, akut-entzündliche Läsionen dargestellt werden, nicht aber die sich später entwickelnden Plaquetypen mit PRL. PRL lassen sich aber mit neuen MRT-Sequenzen wie dem QSM-MRT-Mapping (Quantitative susceptibility mapping; QSM) bzw. dem suszeptibilitätsgewichteten MRT nachweisen.
Wichtige Treiber der Neuroinflam­mation im ZNS sind die Mikroglia/Makrophagen. In einem gesunden ZNS sind Mikroglia wichtige Mediatoren der Remyelinisierung, können aber ihren Phänotyp in eine proinflammatorisch/neurodegenera­tive Form wechseln. Sie finden sich gehäuft in PRL-SEL. Aktivierte Mikrogliazellen können heute mittels PET-Bildgebung und TSPO-(translocator protein) bindenden Radioliganden wie 11C-PK11195 oder P2X7 nachgewiesen werden, so Prof. Maria Rocca, Mailand5.
Mit den Inhibitoren der Bruton-Tyrosinkinase (BTK) werden jetzt erstmals ZNS-gängige Wirkstoffe in Phase-III-Studien bei unterschiedlichen MS-Verlaufsformen untersucht, berichtete Prof Jaume Sastre-Garriga, Barcelona. Die BTK-Inhibitoren (BTKi) sind orale „small molecules“. Sie inhibieren direkt im ZNS in den Zielzellen die BTK als Enzymmodulator wichtiger Signalwege für die Aktivierung von B-Zellen und Mikroglia/Makrophagen sowie die Entwicklung von SEL6.

N. opticus-Befund als MS-Diagnosekriterium?
Aus Wien wurde nun von einer Arbeitsgruppe auch der Vorschlag präsentiert, Veränderungen des N. opticus, gemessen mittels OCT, als fünfte Region der räumlichen Dissemination von entzündlich-entmarkenden Herden als Kriterium der Diagnose einer MS aufzunehmen. Bsteh et al. leiteten ihren Vorschlag aus den Ergebnissen einer prospektiven Observationsstudie mit 267 MS-Patientinnen ab. Die Teilnehmerinnen (im Mittel 31,3 Jahre, 69% Frauen) wurden median 59 Monate nachbeobachtet.
Wurde eine Veränderung im OCT zusätzlich zu den bisherigen Kriterien einer zeitlichen und räumlichen Dissemination (DIS) nachgewiesen, so erhöhte sich die Diagnose-Genauigkeit (DIS+OCT 81,2 % vs. DIS allein 65,6 %,). Die Sensitivität betrug 84,2 % (DIS+OCT) vs.77,9 % (DIS allein) bei vergleichbarer Spezifität. Bei der Kombination DIS+OCT Kriterien (≥2 of 5 DIS+OCT-Regionen betroffen) entsprach dies einem um das 3,6-Fache erhöhten Risiko eines zweiten Ereignisses (HR 3,6) im Vergleich zu einem um ein 2,5-fach erhöhtes Risiko bei Zugrundelegung der McDonald-Kriterien von 20177.

Migräne: Wetterfühligkeit als Triggerfaktor

Migräne-Patientinnen sind besonders wetterfühlig. Eine italienischen Arbeitsgruppe untersuchte in einer retrospektiven Studie mit 1.615 Patientinnen mit primärer und sekundärer Migräne über eine Dauer von zwei Jahren, ob Wetterumschwünge ein Prädiktor für schwere Attacken sind. Gemessen wurde die Häufigkeit von stationären Notfallaufnahmen. Auch wenn plötzliche Wetteränderungen ein nicht modifizierbarer Trigger sein könnten, ermöglicht die Kenntnis kommender meteorologischer Veränderungen wie Temperatur, Luftfeuchtigkeit und Luftdruck eine größere Aufmerksamkeit hinsichtlich modifizierbarer Begleitfaktoren, die als Auslöser von Migräneattacken wichtig sein könnten1.
Die multizentrische prospektive Real-World-Studie I-NEED zeigte bei vorbehandelten Patientinnen mit chronischer Migräne (CM) und Medikamenten-Übergebrauch (n = 1109) unter der Therapie mit GCRP-Antikörpern (Erenumab/Fremanezumab/Galcanezumab: n = 676/295/138) nach 48 Wochen eine Konversionsrate von einer chronischen zu einer episodischen Migräne (EM) von 80,8 % geführt. Darüber hinaus erfüllten 83,7 % der Patientinnen nicht mehr die Kriterien eines Medikamenten-Übergebrauchs. Die Real-World-Studie wurde in 29 italienischen Kopfschmerzzentren durchgeführt. Alle Teilnehmer*innen waren mit ≥ 3 Prophylaktika vorbehandelt2.

Probiotika beim Morbus Parkinson?
Der Einsatz von Probiotika zur Verbesserung der Darmfunktion bei Patientinnen mit Morbus Parkinson wird seit einigen Jahren diskutiert. Eine italienische Pilotstudie mit 40 Parkinson-Patientinnen untersuchte jetzt die Wirkung der Gabe von Probiotika auf klinisch-neurologische Endpunkte. Die Teilnehmer*innen wurden in zwei Gruppen randomisiert und verblindet. Sie erhielten entweder aktive Probiotika oder Placebo.
Nach 6 und 12 Wochen erfolgte eine ausführliche klinische Evaluation einschließlich motorischer (UPDRS-III-Skala) und nicht-motorischer Skalen – mit der NMSS (Non-Motor Symptoms ­Scale for Parkinson’s Disease), dem Compass-31-Fragebogen (Composite Autonomic Symptom Score 31), dem PaC-Qol-Frage­bogen (Patient-Assessment of Constipation Quality of Life questionnaire), der Wexner-Skala, dem Zung-Selbstbeurteilungsbogen und dem BDI-II (Beck Depressions Index) sowie einer Kognitionstestung mittel MoCa-Test (Montreal-Cognitive-Assessement-Test). Die Medikation blieb stabil.
Nach 12 Wochen zeigte die aktive Therapiegruppe eine signifikante Verbesserung der Motor-Subskala UPDRS III (p=0,028) nicht motorischer Symptome auf der NMSS-Skala (p=0.041), insbesondere beim Item „Gatroistinale Funktion“ (p=0,021). Positive, aber nicht signifikante Trends wurden beim CAS, ­MoCA, Compass-31 und PaC-Qol gemessen3.

Dr. med. Alexander Kretzschmar

Quelle: 9. Jahrestagung der European Academy of Neurology (EAN) vom 1.-4. Juli in Budapest/Ungarn.

Literatur: 1. Sottani C et al. EAN 2023; Abstract EPO-579.
2. Egeo G et al. EAN 2023; Abstract EPR-046.
3. Magistrelli L et al. EAN 2023; Abstract EPR-277.
Kappos L EAN 2023; Abstract FW10_1.
5. Roc+ca M EAN 2023; Abstract FW10_2.
6. Sastre-Garriga J EAN 2023; Abstract FW10_3.
7. Bsteh G et al. EAN 2023; Abstract EPR-092.

Abb.: AdobeStock/Berit Kessler

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