Die Verbreitung von Adipositas steigt zunehmend. Es ist höchste Zeit ist, dass sich Wissenschaftler und Experten aus aller Welt mit den Ursachen, der Behandlung und den Konsequenzen befassen.
Laut WHO ist Adipositas eine chronische Erkrankung1, die eine langfristige Behandlung erfordert. Sie kann schwerwiegende gesundheitliche Folgen und letztendlich eine vorzeitige Mortalität begünstigen. Zu den Adipositas-assoziierten Komorbiditäten zählen unter anderem Typ-2-Diabetes, Herzerkrankungen, obstruktives Schlafapnoe-Syndrom und bestimmte Krebsarten.1,3
Wichtig für die Therapie ist es, dass Ärzte sich bewusst machen, dass die Patienten die Erkrankung allein nicht bewältigen können.
Disease-Management-Programm Adipositas – was bringt es?
Disease-Management-Programme (DMP) werden für die Versorgung von Patienten mit chronischen Erkrankungen entwickelt. Sie führen den Arzt strukturiert durch die Therapie. Letztendlich gilt es bei den Allgemeinärzten vielen Indikationen gerecht zu werden, wobei die Chroniker besondere Aufmerksamkeit im Sinne einer Langzeitbetreuung brauchen.
Bei dem bald zur Verfügung stehenden DMP-Adipositas werden Vorgaben und Empfehlungen zu Arztterminen und Beratungsgesprächen erläutert. Ebenso werden Schulungstermine für Arzt und Fachpersonal angeboten. Ziel ist es, den Patienten für eine auf ihn abgestimmte Therapie vorzubereiten und ihn zu konsequenter Adhärenz zu motivieren. Akute physische und psychische Beschwerden sollen gelindert werden, der Abbau von extremem Übergewicht soll bestmöglich unterstützt werden. Mit steigender Lebensqualität nach ersten Erfolgserlebnissen kann das gelingen.
Therapieoptionen – was sagen die Leitlinien?
Die aktuellen Leitlinien empfehlen ein multimodales Konzept. Neben einem Basisprogramm mit Ernährungs-, Bewegungs- und Verhaltenstherapie werden auch Gewichtsreduktionsprogramme, adjuvante medikamentöse Therapien sowie chirurgische Möglichkeiten vorgeschlagen mit dem Ziel, das reduzierte Gewicht langfristig zu halten.4
Aber, wie spreche ich die Patienten an? Wer will schon hören, dass er 30 kg zu viel Gewicht hat? Psychologie ist gefragt. Zunächst sollte der Arzt um Zustimmung bitten. Falls der Patient einverstanden ist, sollte er nach den daraus folgenden Problemen im Alltag fragen. „Wie wirkt sich Ihr Gewicht auf Ihr Privatleben und Ihre Freizeitaktivitäten aus? Ist es für Sie wichtig, dies zu ändern?“ Nach der Zustimmung folgt die Diagnose mit Erhebung des Gewichts und der Körpergröße, Bestimmung des Body Mass Index (BMI) und des Taillienumfangs. Dabei gilt es, den Ist- und Soll-Zustand zu definieren.
Sind die Fakten bekannt, sollten Möglichkeiten und Lösungen zur Gewichtsreduktion besprochen werden. Wichtig ist, dass der Patient weiß, dass er keine Schuld an der Erkrankung Adipositas hat.5,6
Und dann geht es darum, realistische Ziele zu finden. Was ist kurzfristig erreichbar, was langfristig? Lebensstiltherapie, Pharmakotherapie oder chirurgische Maßnahmen – was bringt den Patienten am besten zum Ziel?
Interview: „Die Therapie ist lebenslänglich!“
Menschen die erfolgreich abnehmen, müssen lebenslänglich auf ihr Gewicht achten. Warum das so ist und warum das Problem mittlerweile weltweit existiert, erläutert Adipositas-Experte Dr. med. Arya Sharma.
Wie kommt es, dass es weltweit immer mehr adipöse Menschen gibt, auch in ärmeren Ländern?
Sharma: Nun, da kommen viele Faktoren zusammen, nicht nur die Lebensweise, auch die Möglichkeit, gesunde Lebensmittel zu kaufen und zu konsumieren. Viele Menschen können sich das nicht leisten. Aber auch die Genetik und die körpereigene Biologie spielen eine Rolle.
Was verstehen Sie unter der körpereigenen Biologie in Bezug auf Adipositas?
Sharma: Evolutionsbedingt speichert unser Körper überflüssige Kalorien ab und hält sie bereit für Hungersnöte. Das ist eine instinktive Überlebensstrategie. Heutzutage gibt es aber – zumindest in den Industriestaaten – keine Hungersnot mehr. Dennoch bleibt die Notfallstrategie: In guten Zeiten werden Fettpolster angelegt. Das Problem ist aber, dass es in der westlichen Welt keine schlechten Zeiten gibt. Was einmal die Waage nach oben ausschlagen lässt, kann nur schwer revidiert werden.
Was sind die größten Gefahren, Übergewicht aufzubauen?
Sharma: Einerseits ein reichliches Angebot an Essen, und leider ist Fast Food in der Regel günstiger als gesunde Kost. Was macht also eine mehrköpfige Familie? Die Werbung gibt noch den Rest dazu. Ebenso die überwiegend sitzende Tätigkeit und – so wichtig es ist – auch die zunehmende Digitalisierung. Arbeitnehmer, Schüler und kleine Kinder sitzen sehr oft vorm Bildschirm, ohne sich zu bewegen. Auch Stress, Schlafmangel oder Frust spielen eine Rolle. Und all diese Faktoren greifen natürlich weltweit.
Aber warum essen Menschen das Gleiche, und der eine ist übergewichtig, der andere nicht?
Sharma: Das liegt unter anderem an den Genen. Es gibt Leute, die können so viel essen, wie sie wollen, ohne zuzunehmen. Die essen dann aber auch selten über das Sättigungsgefühl hinaus. Andere Menschen essen, um sich zu trösten oder um Stress abzubauen. Und wieder andere, weil es die Geselligkeit verlangt, beispielsweise auf Volksfesten. Aber trotz allem, unabhängig vom Lebensstil, können Gene Adipositas triggern. Adipositas ist nichts neues, das hat es in der Geschichte der Menschheit immer gegeben. Nur heute ist es weiterverbreitet. Und früher war Adipositas ein Statussymbol der Reichen. Heute trifft es eher die Normal- oder Minderverdiener.
Wie kann man den Kreislauf „Übergewicht halten“ unterbrechen?
Sharma: Leider gar nicht, weil eine Sollwertverstellung im Hypothalamus nicht möglich ist. Jedes Kilo zu viel wird für gut befunden, um bei einer Hungersnot überleben zu können – das ist evolutionär bedingt. Deshalb sind viele Diäten frustrierend. Man kann die Kalorienzufuhr zwar drastisch drosseln, aber dann reduziert der Körper seinen Energieverbrauch und die Abnehmerfolge sind deutlich geringer als geplant oder gar errechnet. Dies umso mehr, wenn man eine entsprechende genetische Disposition hat. Die individuelle Biologie beeinflusst zudem auch, welche Diät anschlägt und welche nicht. Beim einen greift Low Carb, beim anderen Low Fat. Am Ende des Tages zählt die Kalorienbilanz?
Text und Interview: Elke Engels
Dr. med. Arya M. Sharma, Emeritierter Professor für Medizin und ehemaliger Lehrstuhlinhaber für Adipositasforschung und -management der University of Alberta, Edmonton, Kanada
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